30.5. – 14.6.17
Lies hier über die erste Etappe meiner Reise
Es ist schon brutal für den Körper, wenn man Richtung Westen fliegt. Die Zeit verrinnt und die Sonne verharrt einfach in der selben Position, geht nicht unter. Im Flugzeug gehen blaue LEDs an, sollen sie zur Neusynchronisation unseres Biorhythmus dienen? Wie innovativ!
Ich werde angenehmerweise von Brandon, meinem Airbnbn-Host, abgeholt. Er und seine Frau Libby sind nur ein wenig älter als ich, haben eine 2-jährige süße Tochter, sind Vegetarier und extrem gesundheitsbewusst eingestellt. Mir hat schon die Anzeige im Internet gefallen, die Hochbeete im kleinen Garten, freilaufende Hühner… wir liegen auf Anhieb auf einer Wellenlänge, zumindest weiß ich, dass wir uns super würden unterhalten können, wenn ich hier nicht gerade wegen 8 Stunde Zeitverschiebung total durch wäre, weil ich in die immer noch heiße Abendsonne Colorados starre, während mein Körper der Überzeugung ist, dass es gerade 4 Uhr nachts wäre. Ich gebe also leider erstmal keinen guten Gesprächpartner ab, aber Brandon ist auf jeden Fall schonmal begeistert, dass ich eine ganzheitliche Ernährungsausbildung mache. Er ist selbst auch sehr naturwissenschaftlich eingestellt und selbst von Beruf Lehrer und Dean (Vizeschulleiter, Dekan). Seine Frau Libby ist Kunstlehrerin und freischaffende Künstlerin (meine erste Ausbildung ist ebenfalls in dem Bereich), also wenn das mal nicht harmoniert!
Tatjana wartet schon auf mich. Ich merke bei ihr eine Mischung aus Vorfreude auf Gesellschaft, Neugier und Anspannung, weil wir uns ja jetzt das erste Mal live treffen. Ich bin schon froh, dass ich nochmal unverhofft für eine Nacht ein Zimmer für mich bekommen habe in dem Hotel in Reykjavik. Sich jetzt dieses 1,40m Bett in dem winzigen Kellerraum zu teilen ist schon echt komisch, auch wenn ich natürlich sehr froh über diese megagünstige Möglichkeit bin. Ich glaube, es ist ganz gut, dass ich einfach nur total durch und platt bin, ich kann kaum noch klar denken und vor meinen Augen tanzen Lichtfunken, ich begrüße sie freundlich aber entschuldige mich sogleich, dass ich mich ins Bett begeben muss. Ich merke ihre Enttäuschung und den Wunsch, sich mit mir auszutauschen, und erahne schon, welche Lektion hier auf mich wartet, die ich lernen muss… Doch ich muss schlafen, morgen geht der Liveworkshop los vom Institute for the Psychology of Eating, unser großes Abschlussevent, 4 Tage 8 Stunden täglich, und den erhofften Tag zum Akklimatisieren habe ich nun in Island verbracht.
Ich kann erst gut einschlafen, wache aber sehr oft auf (auch vor entsetzlichem Durst, es ist so trocken hier und wir liegen auf 1600m überm Meeresspiegel) und mein Stresslevel ist hoch, mitten in der Nacht liege ich dann ein paar Stunden wach, döse wieder ein mit gruseligen Alpträumen in denen Tatjana, die inzwischen neben mir liegt und schläft, eine Rolle spielt, und bin dann endgültig ab halb sechs wach, als das erste Tageslicht durchs Kellerfenster direkt neben mir eindringt.
Es hilft alles nichts, jetzt gilt es, das beste aus diesem Tag zu machen. Ich dusche kalt um meinen morgendlichen Cortisolspiegel zu erhöhen und erde mich barfuß auf dem noch taunassen Gras des Gartens und bade mich im Morgenlicht, um meinem Körper mit allen Mitteln zu helfen, sich neuzusynchronisieren.
Dann kommt das, wovor ich mich am meisten gefürchtet habe: Frühstück! Nicht in Panik geraten. Was werde ich essen? Kurzer Anflug von Hilflosigkeit und Selbstmitleid. Aber da ist niemand, an den ich mich klammern könnte. Tatjana ist genauso unsicher (und hungrig) wie ich, auch noch nie wirklich allein gereist.
Die einzige große Erleichterung: Wir haben gerade BEIDE unsere Tage bekommen. Überlegt euch mal, wir zwei wären hier jetzt gerade in PMS-Blutzuckerschwankungslaune (ich empfehle bei schwerer PMS dringend die Supplementation mit Magnesium)! Aber ab heute geht bei mir alles aufwärts, auch vom Immunsystem.
Problem. Auto mieten wäre umständlich, preislich vielleicht noch machbar, aber Kaution wäre sehr hoch und wir müssten erstmal hin kommen! Wir sind zwar nur 10 Minuten vom Veranstaltungsort entfernt, aber… 10 Minuten über den Highway! Ich wünschte, ich hätte mich sorgfältiger vorbereitet, aber in den letzten Monaten habe ich 6-einhalb Tage die Woche gearbeitet, im Aufbau meiner Selbstständigkeit, und irgendwas bleibt doch immer auf der Strecke… Immerhin hat Tatjana den gestrigen Tag schon genutzt, um sorgfältige Erkundungen einzuziehen und Brandon und Libby geben ebenfalls sehr hilfreiche Tipps. So ist es möglich, mit dem Bus zu fahren, wir müssen nur erst ein Stück laufen und einmal umsteigen. In der Nähe der Bushaltestelle ist sogar ein toller Frühstücksort, „The Egg & I“, wo ich ein so deftiges Frühstück bekomme, wie ich brauche, um eine stabile Basis für den Tag zu haben. Für Tatjana sind die Portionen schon viel zu riesig. Als wir auf die Sitze des Restaurants fallen und die Speisekarte in die Hand nehmen, fällt eine erste große Anspannung von uns beiden ab und wir lachen und scherzen. Hier essen wir jetzt jeden Morgen zusammen.
Puh, endlich was zu essen! Das nenn ich mal ein Frühstück: Große Portionen mit Kartoffeln, Steakstreifen, Truthahnwurst, viel gebratenem Gemüse, Salat, Obst, frisch gepressten Säften, sogar glutenfreien Pfannkuchen (aus Haferflocken), Ziegenkäse, ohne jetzt wie der große Gesundheitsladen daherzukommen, hier würden auch Trucker zufrieden gestellt werden, super nette, süße und hilfsbereite Bedienung, die auch auf Wünsche eingeht, und mehr als humane Preise! Hier bekomme ich schonmal einen ersten Vorgeschmack vom berühmten Flair Denvers, auf den ich mich so gefreut hatte. Denver wurde 2016 zum lebenswertesten Ort in den USA ernannt! Tatjana freut sich auch, denn auch sie muss aufpassen wegen einer Laktoseintoleranz.
Die supercoole Bedienung erklärt uns europäischen Ladys dann nochmal das Bussystem und wie das mit der Bestellung eines Ubers funktioniert, ein Taxiservice über eine App über Privatpersonen, die ihr Auto zur Verfügung stellen und sich damit etwas dazuverdienen, wenn sie gerade in der Gegend sind.
Gesättigt und voller neuer Kraft und neuen Mutes machen wir uns dann los zum Abenteuer Busfahrt. Kurzfassung: Alles läuft super (und unglaublich wie nett die Busfahrer hier sind, die verabschieden einen sogar und wünschen einen schönen Tag!) und als wir dann in der Nähe des Mariott-Hotels, das unser Ziel ist, aussteigen, gehen wir gleich viel selbstbewusster wie zwei Königinnen oder Kriegerinnen, die neues Land erobert haben. Mann sind wir gut!^^ Und wie aufregend, hier sind wir nun also, ich kann es immer noch nicht glauben, dass es nun wahr wird und dass ich wirklich hier bin.
Fürs Mittagessen ist gesorgt während des viertägigen Workshops, es gibt, bereitgestellt durch das Hotel, ein großzügiges und gesundes Salatbuffet, wo wirklich alles einzeln ist, sogar die Salatsorten (so kann ich den Spinat umgehen, auch wenn ich ihn inzwischen wieder besser vertrage), dazu zwei Suppen, meist eine paleo- und eine vegane Variante, und die Wahl zwischen Schafs- und Kuhmilchkäse und sonstigen vielen Extras, von denen man gut satt wird, und das alles für nur 13$.
Am ersten Abend komme ich einfach nur noch todmüde zurück in unsere Unterkunft und falle schon um 21 Uhr ins Bett. Ich habe nichtmal Hunger auf Abendessen, was bei mir echt krass ungewöhnlich ist!
Am nächsten Abend nach dem Workshop lasse ich mich von Tatjana, die extrem beharrlich ist, und Karolina (kommt ursprünglich aus Polen und wohnt jetzt in den USA), zu einer Tour in die Innenstadt von Denver überreden. Mein Bauchgefühl sagt eigentlich nein und ich bin mental sehr ausgelaugt, aber ich lasse mich dann beschwatzen. Tatjana stellt einfach sehr direkt alles in Frage, was ich über meinen körperlichen Zustand sage und kann es nicht im geringsten nachvollziehen, wie krass anstrengend das alles für mich ist. Für sie macht die Reise ohne Stadtbesichtigung und bummeln keinen Sinn. Auf der Busfahrt und als wir dann durch die Fußgängerzone gehen, merken die Mädels dann doch, dass es mir nicht gut geht, ich bekomme einen richtigen sensorischen Overload, was ich ewig nicht hatte. Ich habe jetzt auch echt lange nichts gegessen. Es ist unfassbar laut, viele Menschen und Lichter und dazu die Panik, weil ich allein gar nicht wüsste, wie ich wieder zurück komme und einfach das Gefühl, dass jeden Moment der Akku leer sein könnte und was dann? Gleichzeitig tut es mir so Leid, dass ich so komisch bin und ich fühle mich schlecht deswegen und bin unfassbar dankbar, dass die Mädels dann sehr geduldig und verständnisvoll sind und nicht weiter auf mich eindringen, sondern wir uns auf die Suche nach etwas zu Essen konzentrieren. Ich bekomme nachher ein gutes Lammkotelett mit vier Stücken Zucchini für unglaubliche 37$, und bin noch nichtmal richtig gesättigt. Besser als vorher, aber das wars echt nicht wert für mich. So toll ist der Broadway irgendwie auch nicht, die üblichen Geschäfte wie Starbucks und Co.
Mit Karolina kann ich mich noch gut austauschen, da sie selbst das Problem hatte, dass bei ihr kognitive Probleme auftraten und sie mit sensorischen Reizen sowie mit Erschöpfung Probleme bekam, es jetzt auch deutlich bei ihrem Sohn ausgeprägt ist. Ich entdecke auch Hinweise auf Histaminintoleranz und Mastzellaktivierung bei ihr.
Auf einem langen Fußmarsch nach Hause am nächsten Abend nach dem Workshop, da die Busse dummerweise wochenends zum Teil nicht fahren, haben Tatjana und ich nochmal intensiv Gelegenheit zum Reden. Sie ist sehr unbefangen, direkt, fällt mit der Tür ins Haus, sieht alles nicht so eng und kann kaum verstehen, dass gewisse Dinge nichts für mich sind, die für sie supertoll sind. Ich merke nun verblüfft, dass ihr mir-meine-Ängste-ausreden und abtun und ihre ständiges Darstellen der Dinge als allgemein gegeben („wenn man in den USA ist muss man doch auch dies und jenes besichtigen“) ein von ihr unausgesprochenes Bedürfnis zugrunde liegen hat! Es hat überhaupt nichts mit mir zu tun sondern mit ihren eigenen Ängsten, nämlich dass sie nicht alleine reisen möchte! Wofür ich absolutes Verständnis habe, denn mir geht es ja genauso.
In einem guten Gespräch schaffe ich es -und das ist ein großer Schritt für mich! Aber sie ist der ideale Gegenpart für diese Lektion, da sie erstens total direkt ist und herausfordert und gleichzeitig auch gut einstecken kann- knallhart auszusprechen: Ich bin so und so, ich habe diese Krankheit und diese Schwächen und körperlichen Grenzen und ich weiß schon, warum ich die Dinge so mache, wie ich sie eben mache. Ich habe mich in den letzten Jahren intensiv mit mir selbst auseinander gesetzt und übernehme inzwischen die Verantwortung für mein Wohlbefinden.
Es fällt ihr wirklich extrem schwer, sich vorzustellen, wie es mir ging und oft noch geht, meint, ich müsse mehr an meine Grenzen gepusht werden, was ich allerdings schon fast jeden Tag meines Lebens tue, aber ich schaffe es, nicht mehr auf ihre „Erlaubnis“ und ihr Verständnis zu warten, sondern es mir selbst zu geben und zu gestatten, einfach so zu sein wie ich eben bin und dies auch auszustrahlen.
Sie selbst beginnt nun auch, nachdem sie bei mir keinen Boden mehr gewinnen kann, sich selbst zu analysieren und sich mit ihren Sorgen und ihrem Unwohlsein bezüglich des Alleinreisens auseinanderzusetzen und sieht nun auch die große Wachstumschance für sie (am Ende meistert sie es auch ganz wunderbar).
Ich zeige ihr am nächsten Morgen auch nochmal Fotos aus meiner schlimmsten Neurodermitiszeit und ich merke jetzt, dass sie mich wirklich verstehen will und sie vertraut sich mir auch bezüglich eigener gesundheitlicher Beschwerden an.
Montag. Der Workshop ist nun vorbei und wir Mädels (ich, Sandra und Petra (2 Deutsche, aber Petra wohnt in Paris, mit Sandra bin ich seit Beginn des Trainings telefonisch sehr gut befreundet) und Tatjana) besuchen den Botanic Garden in Denver, was schön entspannend ist, nur die Fahrt hierhin war fast schon zu anstrengend. Danach gehen Tatjana und ich nochmal bummeln, aber ich muss wieder bemerken, ich bin kein Stadtmensch. Ich fühle mich auch einfach nur matschig, es ist sehr schwül und dann noch diese ominöse Frikadelle, die ich im botanischen Garten gegessen habe, selbst wenn die das Brötchen glutenfrei war (glutenfrei ist hier schon Standard, aber da weiß man natürlich auch wieder nicht, was drin ist)… Für die Workshoptage hatte ich mich gut mit Toxaprevent eingedeckt, da ich einfach top funktionieren wollte, aber ich merke jetzt den gravierenden Unterschied. Hätte ich mal mehr mitgenommen. Mal wieder zuviel Zeuch, das meine Leber nicht abbauen kann.
Tatjana und ich verabschieden uns vor dem Schlafengehen, sie wird um halb fünf morgens zum Flughafen aufbrechen. Ich bleibe eine weitere Woche. Ich wünsche ihr alles Gute, schon seltsam, dass das jetzt schon wieder vorbei ist, wie „bumpy“ unser gemeinsamer „ride“ doch war (ich gebe ja ohne Umschweife zu, dass es auch mit mir nicht leicht ist und sie mir da oft Leid getan hat^^) und wie gut wir uns am Ende zusammengerauft haben.