Ich bedanke mich sehr herzlich bei meinem Leser und Verfasser dieses Gastbeitrags, Alex, der uns in einen Teil seiner Geschichte des Gesundwerdens mit hineinnimmt. Seine Story zeigt uns wieder einmal, warum es wichtig ist, sich den gesamten Menschen als Ökosystem anzuschauen, mit allen Lebensbereichen und Neurotransmittern, statt sich nur auf ein einzelnes biogenes Amin, das Histamin, zu fixieren. Alles beeinflusst sich gegenseitig, und wir können nur gesund werden, wenn wir an unseren stärksten Hebelpunkten ansetzen. Alex geht in seinem Bericht sehr offen auf ein leider noch zumeist totgeschwiegenes Thema ein, von dem viele betroffen sind. Dabei hat doch jeder irgendwo seine Laster, wie man zu sagen pflegt. Die Wahrheit ist, dass es hirnchemisch keinen Unterschied macht, ob du süchtig bist nach Substanzen (Drogen, Zucker) oder stimulierenden Verhaltensweisen. Wann immer ein Ungleichgewicht in unserem Leben eintritt, kann sich dies in einem körperlichen Ungleichgewicht manifestieren und uns auf Dauer krank machen, uns wertvolle Lebensenergie abzapfen. Wie immer ist es dann wichtig, sich nicht auf das „Symptom“ (die Sucht) zu stürzen, sondern zu fragen, was da im Verborgenen falsch gelaufen ist und wie man wieder nachhaltig Balance ins System bringen kann. Mein großes Anliegen wäre es von daher, dass wir als Gesellschaft aufhören, zu verurteilen und zu unterscheiden (warum wird z.B. ein Drogensüchtiger geächtet, aber Menschen mit Helfersyndrom, die sich völlig aufopfern für andere, so geschätzt? Warum sehen wir Fernseh- und Kaufsucht mittlerweile als etwas völlig Normales an?) und mehr in den Dialog kommen, um Lösungen zu finden.
Liebe Doro-Follower,
Nachdem ich Doro per eMail und auch später telefonisch einmal von meinem Weg des Gesundwerdens berichtet hatte bot sie mir an, doch vielleicht mal einen kurzen Gastbeitrag auf ihrer Homepage zu veröffentlichen… Here we go, in der Hoffnung, dass ich damit vielleicht noch dem einen oder anderen einen wertvollen Hinweis geben kann.
Ich möchte mich im Folgenden ganz besonders auf einen Aspekt des Gesundwerdens konzentrieren, den ich völlig unterschätzt hatte. Er passt ganz gut in die Kategorie „(Ess-)gelüste“, die Doro ja auch hier im Blog anspricht.
Meinen gefühlt endlosen Weg über ein Jahrzehnt mit völlig diffusen, lähmenden Beschwerden und Schmerzen und wahnsinnig frustrierenden Arztbesuchen, die meist mit der Frage „haben Sie viel Stress?“ endeten, kann ich gerne bei Interesse auch noch einmal später im Detail beschreiben.
Am Ende stand jedenfalls letztes Jahr (2017) endlich die Diagnose „MCAS“ durch den unglaublich engagierten Prof. Homann in Bonn und meine Basismedikation, die mich einen riesigen Schritt nach vorne brachte. Neben der Medikation waren die Konsequenzen z.B. die komplette Umstellung auf parfümfreie Kosmetik & Waschmittel, wenig Zucker, Einschränkung von Zusatzstoffen in Lebensmitteln, wenig Weizen und Milch und und und…
Aber irgendwas gab es da noch, dass mich immer wieder gefühlt um ein paar Monate in der Therapie zurückwarf. Dieses komische Gefühl am Ende eines Arbeitstages, dass noch eine Art Kick fehlte, bevor man abschalten kann.
Eigentlich ein trauriges kulinarisches Leben, aber was macht man nicht alles dafür, morgens ohne Schmerzen aufwachen und ansatzweise lebendig auf die Arbeit fahren zu können.
Aber irgendwas gab es da noch, dass mich immer wieder gefühlt um ein paar Monate in der Therapie zurückwarf. Dieses komische Gefühl am Ende eines Arbeitstages, dass noch eine Art Kick fehlte, bevor man abschalten kann. Kaum durch die Tür, schien mein Körper entweder nach Koffein, einem Fläschchen Bier, vielleicht sogar einer Zigarette zu verlangen – und ich rauche doch seit Ewigkeiten nicht mehr, außer mal in guter Gesellschaft bei einem Glas Wein…
Als ich das erstmal so zweifelsfrei als Problem identifiziert hatte, konnte ich ja damit beginnen, mich Stück für Stück davon zu verabschieden. Gar nicht so einfach, wenn mal alle drei Laster innerhalb recht kurzer Zeit zumindest unter der Woche loswerden will…
Erstaunlicher Weise ging es aber dann doch recht gut. Dann nahm ich etwas Neues wahr, das ich jahrelang überhaupt nicht als Problem erkannt hatte… Statt Kaffee, Kippen oder Kölsch konnte ich offenbar prima meinen Körper in den Feierabend versetzen, wenn ich mal kurz nachschaute, was so auf Portalen wie YouPorn oder xHamster über den Tag passiert war.
Dabei war es fast egal, was ich dort schaute und wer von den ganzen „Stars“ darin vorkam. Viel eher klickte ich mich ständig durch neue Fenster auf der Suche nach neuen Szenen oder „Gesichtern“ (ja…ab und zu hatte ich sogar auf die Gesicher geachtet – #Bisschenspaßmusssein…). Am Ende dann tatsächlich gelangweilt und gefrustet, weil die echte Innovation irgendwann ausblieb. Eigentlich klar, dass die Möglichkeiten in dem Genre endlich sind…
Hinter dem Abstumpfen steckt offenkundig immer der Neurotransmitter Dopamin. Das Belohnungszentrum wird nicht nur aktiviert, sondern konstant überaktiviert. Der Körper schützt sich dagegen und baut sich eine Art emotionale Hornhaut gegen diese Überstimulation auf, um nicht vor Glück und Belohnung durchzudrehen.
Das Problem hierbei ist wie bei jeder handfesten, „echten“ Sucht: je mehr Du nimmst, desto mehr brauchst Du, um dich wohlzufühlen. Freude aus alltäglichen kleinen Dingen und sozialen Kontakten oder auch einfach aus der Partnerschaft zu empfinden wird immer schwieriger.
Ich verkürze im Folgenden und bin sicherlich auch medizinisch nicht 100% akkurat unterwegs – verzeiht mir das bitte; meinen Punkt kann ich hoffentlich auch ohne Promotion machen: Hinter dem Abstumpfen steckt offenkundig immer der Neurotransmitter Dopamin. Und zwar egal mit welcher Substanz (Nikotin, Alkohol, Koffein) oder sogar ohne Substanz (Facebook und Youporn): das Belohnungszentrum wird nicht nur aktiviert, sondern konstant überaktiviert. Der Körper schützt sich dagegen und baut sich eine Art emotionale Hornhaut gegen diese Überstimulation auf, um nicht vor Glück und Belohnung durchzudrehen. Das macht es dann für ganz normale, alltäglich schöne Erlebnisse extrem schwer, überhaupt als erlebenswert wahrgenommen zu werden. Das Hirn lernt, dass es nur noch mit der neu gefundenen Droge glücklich sein kann…
Und dabei ist es völlig egal ob Tabak, Alkohol, Erwachseneninhalte, Facebook, Online-Spiele oder was auch immer: der Körper ist unglaublich kreativ wenn es darum geht, neue Laster zu erfinden.
Ich fand die Seite yourbrainonporn.com letztendlich sehr hilfreich um zu verstehen, wie ernst die ganze Sache eigentlich ist. Von dort wird auch auf ein TED Talk-Video verlinkt, das nicht weniger spannend ist: „The Great Porn Experiment“. Meinem Hirn konnte ich nach allem, was ich dort gelernt habe, also offenbar vorgaukeln, abends mal eben 10-20 junge attraktive Frauen mit verschiedensten Vorlieben begattet zu haben. Wer würde sich dabei erstmal nicht gut fühlen?
Im Extremfall trainiert man sich so aber zum Beispiel sukzessive die Attraktivität der eigenen Partnerin ab, die man sich eben nicht jeden Abend so zusammenkonfigurieren kann (und möchte!), wie es einem gerade passt.
Dieser Teufelskreis bedeutet vor allem eins für den Körper: puren Stress. Dagegen ist sämtliche Hektik im Büro, die man ja gerne hernimmt als Auslöser sämtlicher Krankheiten, ein reiner Kindergarten. Zumindest in meinem persönlichen, konkreten Fall. Und das obwohl ich mein Leben lang anspruchsvolle Jobs hatte und inzwischen auch einiges an Verantwortung trage.
Zurück zum Gesundwerden
Zurück zum Gesundwerden: das Aufgeben dieser bestimmten Gewohnheit hat alles in den Schatten stellt, was ich bisher aufgegeben hatte. Nehmt das Rauchen…keine Zigaretten mehr gekauft, dann gab‘s zu Hause keine mehr und die Sache ließ sich aushalten. Seit das Breitband-Internet uns mit unendlichen Inhalten beglückt, ist alles immer verfügbar. Eine ganz tolle Sache, aber leider manchmal eben auch mit zerstörerischem Potenzial.
Ich hatte regelrechte Entzugssymptome wie Schlaflosigkeit, Kopf- und Nacken- sowie Rückenschmerzen, extreme Stimmungsschwankungen, die an Depression erinnerten, Schweißausbrüche usw. Das Problem ist: man muss nun lernen, Probleme und Erlebnisse anders zu bewältigen und zu verarbeiten, als sie mit ein paar Klicks weit ins Unterbewusstsein zu schieben… Einen hektischen Tag muss ich z.B. mit mehr Sport als früher kompensieren, da ein Auslass einfach weg ist.
Inzwischen sind ca. 3 Monate vergangen, seit ich den ersten „Reboot“-Versuch unternommen habe. Ich glaube, es gibt wirklich niemanden, der das direkt im Cold Turkey Modus monatelang durchzieht ohne Rückfälle. Und so war es auch bei mir. Irgendwann dachte ich mir „ach, das sind ja noch harmlose Bilder, das macht schon nix – guckste nurmal kurz hin“ und so betrügt man sich selbst wieder Stück für Stück in die alten Muster zurück, bis… ja bis man plötzlich wieder völlig antriebslos und auslaugt aufwacht und es kaum schafft, sich für die Arbeit oder auch Besuche bei Freunden aufzuraffen.
Also: Zurück auf Los? Nicht ganz – sobald man sich bei einem Rückfall ertappt (und das kann Tage dauern), gilt es sich wieder aufzuraffen und es erneut zu versuchen. Jeder Tag hilft und die Rückschläge sind nicht ganz so schlimm wie z.B. die ersten 30 Tage. Man durchläuft noch immer die Entzugsphasen, aber viel schneller und die positiven Auswirkungen treten auch viel schneller wieder ein. Bis die Sache aber wirklich durchgestanden ist, können Monate vergehen, manche berichten von bis zu einem Jahr. Und es gibt Stimmen von Psychologen, die von einer „lebenlangen Verwundung“ sprechen.
Positive Auswirkungen auf die Gesundheit
Apropos positive Auswirkungen: ich will da gar nicht ins Detail gehen, aber die Benefits decken sich nahezu 1:1 mit allem, was man mit wenig Google-Sucherei im Internet finden kann:
• Wieder Spaß an sozialen Kontakten (und ich war eigentlich immer extrem sozial… endlich fühlt man sich wieder wie man selbst statt eine leere Hülle)
• Energie, die man vorher gar nicht kannte (manche sprechen von „Super Powers“ – so weit will ich jetzt nicht gehen)
• Etwas, das ich nur aus dem Englischen als Begriff kenne: „Sense of Accomplishment“, also sich darüber freuen, auch nur kleine Dinge erledigen zu können – statt sie wie vorher gar nicht anzugehen
• Endlich wieder klar denken können – einer der besten Benefits…
• …[hier könnte ich noch eine Weile weitermachen]
Ich glaube, es gibt nur einen Rat, den ich jedem geben kann: neben Ernährung, Chemie in Körperpflegeprodukten usw. sind es manchmal auch die Gewohnheiten, auf die man nicht direkt kommt, die einem das Leben ganz schön schwer machen. Und es gibt fast nichts, das nicht zu einer Art Sucht taugt. Durch Doro erfuhr ich z.B., dass auch das „Sammeln“ von Haustieren einen durchaus suchtähnlichen Charakter haben kann.
Mal als einfache Challenge: wer ständig bei Facebook online ist, kann ja mal 4 Wochen „fasten“. Wem das dann rein gar nichts ausmacht, hat eher kein Problem als derjenige, der schon nach 4 Stunden schweißgebadet auf der Couch sitzt und sehnsüchtig über die App am Handy reibt….
Mein Glück war und ist, dass ich mit meiner wunderbaren Frau tatsächlich über diese Dinge reden kann und sie nun auch versteht, dass ich nicht aus Desinteresse und auch nicht aus freiem Willen regelmäßig so vertieft in den Laptop war. Ich konnte in diesen Momenten gar nicht anders und jeder Versuch, das Laster dauerhaft zu unterbinden kostet Kraft. Sie honoriert meine ehrlichen Bemühungen und sieht auch die Probleme, die mir der „Entzug“ macht…
Ich weiß, dass ich noch einen weiten Weg vor mir habe, aber die Erfolge sind dermaßen bahnbrechend und positiv, dass ich mich gerne auf diesen Wege mache.
Ich hoffe, dass ich mit diesem Tabuthema ein paar Leser hier erreichen kann. Und wenn es nur einer ist, der gleich aufsteht und sagt „verdammt, das könnte auch mein Problem sein“, habe ich mein Ziel ja schon erreicht.
Ich habe so viel profitiert von Seiten wie Doros, dass ich einfach gerne den Versuch unternehmen wollte, auch mal etwas zurückzugeben. ~Alex
Weitere Leseempfehlungen zum Thema Sucht & Hirnchemie:
Wir sind Tier – Was wir von den Tieren für unsere Gesundheit lernen können
The Biology of Desire – Why Addiction is not Disease
Change your Brain – Change your Life
Pingback: Dysautonomie – wenn das vegetative Nervensystem aus dem Gleichgewicht gerät – Philosophie des Gesundwerdens
Pingback: Wenn alles zuviel wird – der beste Tipp einer Aspergerin – Philosophie des Gesundwerdens
Pingback: Hauskauf und Auswandern auf die Azoren Teil 1 – Philosophie des Gesundwerdens
Pingback: Probleme, die unsere Vorfahren noch nicht hatten mit der Ernährung – Philosophie des Gesundwerdens
Pingback: Persönliche Freiheit, globale Geschehnisse, wer hat die Verantwortung, was ist die garantiert sicherste und gesündeste Wahl hier? – Philosophie des Gesundwerdens