An diesem Ort hat man wirklich die Chance, gesünder zu werden. Die Insel ist unberührt von Pestiziden und Industrie, das Grundwasser ist dadurch sehr sauber. Alles, was ich von hier esse und trinke (Sanddorn- und Brombeergelee vom Herbst – aber auch nicht gut wegen dem vielen Zucker – Bärlauch, Schlangenlauch, Schaf, Brennnesseltee) ist so rein, wie man es kaum noch irgendwo bekommt. Außerdem die Ruhe. Der Mensch braucht auch mal Zeiten der Reizarmut. In der Natur. Ohne Verkehrslärm. Natürliche Klänge wie das Rauschen des Windes und der Wellen regen ganz ähnlich wie bei einer Meditation bestimmte Gehirnwellen an. Da das Internet hier auch wenn dann nur sehr schlecht funktionierte, erlebte ich zugleich ein wohltuendes Medienfasten. Auch scheint das alte Backsteinhaus ein gutes Raumklima zu besitzen und es keine Schimmelproblematik zu geben.
So langsam merkte ich auch, was ich essen konnte und was nicht und meine Periode ging vorüber, was auch dafür sorgte, dass ich energie- und kopfmäßiger besser funktionierte.
Meine Verdauung war schnell wieder in Ordnung, allerdings geschah mit meiner Haut etwas Seltsames: Ich bekam nach und nach ein paar Mücken-(oder Milben?)stiche, vor allem an den Handrücken, aber auch zwei genau auf der Nase, und auf diese schien sich jetzt die Hauthistaminreaktion zu konzentrieren. Die Neurodermitisstellen auf den Handrücken heilten plötzlich sehr schlagartig komplett ab, aber bei jeder Reaktion (z.B. ließ ich mich öfters zu etwas Wurst hinreißen) schwollen die Mückenstiche heftig an und sogen sich voll Wasser und juckten einfach fürchterlich. Es dauerte etwas, bis ich verstand: Unser Körper ist ziemlich schlau. Er schädigt niemals unnötig Gewebe sondern sucht sich den Weg des geringsten Widerstandes, in dem Fall durch die Mückenstiche vorgeschädigte Hautstellen, und lässt dort die Reaktionen ablaufen, die zum Wiedererlangen des Gleichgewichts wohl notwendig sind. Trotzdem, es war sehr unangenehm und die Stiche schienen mit jeder Reaktion größer zu werden. Außerdem hatte ich seltsamerweise genau in den Wochen dort oben fast täglich mit spontanem starken Nasenbluten zu kämpfen…
Nach einer Woche kam mir die Idee, dass es hier doch genau wie Zuhause ist: Ich bin nicht nur ausgeliefert, sondern habe in einem gewissen Rahmen die Möglichkeit, meine Umwelt zu meinen Gunsten zu verändern: Ich putzte also unseren Schlafraum und den Flur, und wusch meine Bettsachen, was wohl ewig nicht gemacht worden ist. Ich fühlte mich gleich viel entspannter und wohler.
Leider bekam ich gesagt, dass ich nicht so viel von dem Lamm verwendet darf und bekam wieder eine leichte Panik. Ich fürchte fast, ich habe dahingehend eine leichte Essstörung entwickelt, seit ich diese schlimme Zeit vor gut einem Jahr hatte, wo ich fast nichts mehr vertragen und so stark abgenommen habe. Ich hielt mich ständig in der Vorratskammer auf und schmiedete Pläne, wühlte alles wieder und wieder durch und überlegt, was ich kochen könnte. Aber besondere Situationen lassen einen zum Glück auch kreativ werden. Ich habe mir nun jeden Morgen und zwischendrin einen Tee mit einigen Löffeln Kollagenpulver (das von Geschmack und Löslichkeit fast wie Milchpulver ist!) und Kokosmilch gemacht, um meinen Blutzucker stabil zu halten, was echt geholfen hat, meinen Energielevel aufrecht zu erhalten.
Das große Problem ist hier ja auch: Oft kommt ein überraschender Ansturm von Vögeln, und dann hat man Essen gemacht und den Tisch für halb acht gedeckt, aber dann hat man noch so viel zu bearbeiten, dass man erst um halb zehn zum Essen kommt und es dann auch oft dauert, bis man wieder zum Abräumen kommt. Zum einen führte das zu Histaminbildung im Essen, zum anderen hatte ich oft mit Unterzuckerung zu kämpfen, auch wenn es schon besser geworden ist, seit ich dieses Adaptogenpräparat einnehme. Eine Extremsituation war, dass ein Mädel krank wurde, der Stationsleiter und seine Freundin aufs Festland mussten, Rüdiger einen Anruf bekam, dass seine Mutter verstorben sei, wir also plötzlich nur noch zu sechst waren und es dann zu einem Massenansturm an Vögeln kam. Das Frühstück verschob sich um mehrere Stunden, weil wir ohne Pause durcharbeiten mussten, Abendessen gab es erst um halb 10, was 9 Stunden ohne Mahlzeit bedeutete! Das einzige, was ich unternehmen konnte, war mal zwischendurch einen Löffel Kokosöl zu essen. Mein Blutzucker war einigermaßen stabil, aber mein Körper schrie nach Nahrung.
Das Vögel aus den Netzen pulen ist für mich eine Herausforderung. Mir mangelt es etwas an der Feinmotorik in meinen Händen. Die Haut an meinen Fingern ist zwar verhältnismäßig gut, aber durch den Rückfall von vor einem Monat und die jetzige Histaminreaktion auf die Wurst ist sie wieder teilweise sehr papierartig und empfindlich. Ich bin sowieso eine starke Mimose, was meine Finger betrifft und da sehr intolerant gegenüber Berührung, Feuchtigkeit oder sonstige unangenehme Empfindungen, dass es schon vielen Leuten aufgefallen ist, dass ich die Dinge oft nur mit den Fingerspitzen anfasse. Die Rotkehlchen sind sehr nett und leicht zu befreien, aber die Meisen picken und hacken extrem nach einem, es geht nie durch, aber fühlt sich so an, und ich habe starke Hemmungen, sie anzufassen, und dann dauert das Herauspulen nur umso länger und ich werde noch mehr gepickt. Durch die kühlen Temperaturen und die Feuchtigkeit habe ich oft sehr steife Finger, die anderen scheinen nicht dazu zu neigen, ich bin dadurch sehr langsam – sehr frustrierend und sehr anstrengend. Eine Benutzung von Handschuhen ist nicht möglich, da man sehr gefühlvoll arbeiten muss. Nach einer Woche mit mehr Routine wird es aber besser, aber meine Finger wollen trotzdem oft nicht, wie sie sollen.
Es gibt Hering! Er ist an dem Morgen gefangen worden. Ich mache mir nur Sorgen, weil er den ganzen Tag vom Festland hierher unterwegs war und noch nicht ausgenommen ist. Außerdem lassen die den hier noch ewig ungekühlt rumstehen, dass ich schon echt nicht hinsehen kann. Aber in der Küche ist es zum Glück relativ kühl. Ich nehme vorher und nachher je zwei Aktivkohlekompretten, bekomme zwar trotzdem eine leichte Histaminreaktion an der rechten Hand, aber ansonsten ist es echt ok. Ich gehe positiv an die Sache heran, ich WILL diesen Fisch von ganzen Herzen essen, habe keine Angst vor ihm (eher zuwenig). Zumindest bin ich entspannt. Er schmeckt sehr gut. Zwar scharf angebraten in der Pfanne und somit keine Omega-3 Quelle mehr, aber ich genieße einfach den Geschmack, fast wie Fischstäbchen. Und endlich wieder Protein. Sie machen mir extra drei unpanierte Filets, voll lieb. Ich muss mich zusammenreißen, dass ich es dabei belasse, darf es nicht übertreiben. Am nächsten Tag riecht er schon fischig, und sie machen daraus Fischpuffer. Ich esse ein paar Puffer, dazu Paprika für Vitamin C, aber meine Mückenstiche schwellen dick an, und vor allem habe ich den Rest des Tages mit schweren Erschöpfungserscheinungen zu kämpfen.
Ich ziehe mich auf mein Zimmer zurück, schlafe beim Lesen im Sitzen ein vor akuter Erschöpfung, gehe danach spazieren auf einem unebnen Weg, schleppe mich dabei voran wie eine alte Frau. Es ist wirklich kaum zu beschreiben wie schlimm es ist, ich schaffe es mental kaum, im Moment anwesend zu sein, muss mich ständig an einen Baum lehnen zum Ausruhen, schlurfe, stolpere vorwärts, habe regelrecht Koordinationsstörungen. Ich mache Halt bei den Resten einer Mauer, lehne mich mit dem Rücken auf ein schräges Teil, versuche zu meditieren, schlafe für eine halbe Stunde in dieser Position ein, halb liegend, halb stehend. Ich fühle mich sehr krank. Der hohe Gehalt an biogenen Aminen muss schon neurotoxisch auf mich gewirkt haben. Wie können die anderen das nur in solchen Massen essen?! Abends gibt’s wieder Fisch, in Bier eingelegt seit zwei Tagen, geräuchert auf der Grilltonne, davon lasse ich diesmal mit Leichtigkeit die Finger. Ich esse Schweinesteaks und eine Wurst, die ich ungewöhnlich gut vertrage. Netterweise haben sie mir vom Festland auch Reiswaffeln mitgebracht, die ich nun immer mit viel Bärlauchbutter esse.
Rüdiger und ein Mädel, mit dem ich sehr auf einer Wellenlänge gelegen habe, fahren nach zwei Wochen ab. Ich bin extrem geknickt und muss mich sogar zurückziehen um zu weinen. Ohne Rüdiger ist es nicht mehr dasselbe, er war hier einfach meine wichtigste Bezugsperson, manchmal war er wie ein Papa für mich. Ich kam sehr gut mit seiner direkten Art klar und mir fehlen seine dummen Sprüche. Ich habe nun mit einem tiefen Bedauern zu kämpfen, dass ich nicht mehr Energie gehabt habe, um die beiden näher kennen zu lernen. Auch bekomme ich selbst eine starke Aufbruchsstimmung und realisiere wieder, wie gerne ich doch Herpetologin geworden wäre. Was wäre, wenn ich damals wirklich diesen Weg eingeschlagen hätte, nach Brüssel gegangen und niemals an meiner jetzigen Uni in dieses stark verschimmelte Gebäude geraten wäre, und niemals so krank geworden wäre? Wie würde mein Leben jetzt aussehen? Wieder einmal beneide ich die Leute hier, die so völlig in ihrem Element sind, für die diese Insel wie ein zweites Zuhause und voller Wunder ist, wo sie sich entfalten können und gebraucht werden, während ich mir immer noch nicht darüber im Klaren bin, wo ich später eigentlich mal hin will. Aber mir wird auch klar, dass ich gerade deswegen hier noch nicht weg kann und es gut ist, dass ich noch anderthalb Wochen habe.
Über das Wochenende ist eine große Gruppe von Geologen da. Das Haus wird extrem voll, sie sind sehr laut. Zwar interessant und es ergeben sich gute Gespräche, aber auch wahnsinnig anstrengend. Das Schöne ist aber, dass wir jeden Tag grillen und es viel Fleisch gibt. Ich fresse wie ein Wolf. Zum ersten Mal erzähle ich ein paar der Leuten von meiner Krankheit und stoße auf viel Verständnis.
Am zweiten Grillabend habe ich plötzlich eine heftige Reaktion, meine Hände schwellen um die Mückenstiche großflächig an, fast die ganze Hand ist geschwollen. Es fühlt sich schrecklich an, auch die Stiche auf der Nase sind dick, prall und heiß. Erst ein paar Tage später erfahre ich, dass die Bärlauchbutter an dem Abend mit Senf und Zitronensaftkonzentrat zubereitet gewesen war…
Dass ich aber Steak und Kochwurst gut vertrage, ist doch eine tolle Entdeckung! Aber ich muss schon sagen, auch wenn ich das alles so dramatisch beschreibe, in Anbetracht dessen, WAS ich hier alles esse, scheint meine Toleranzschwelle hier wirklich höher zu liegen!
Ab jetzt wird alles besser. Mit dem Schiff, das die Geologen wieder holt, kommt ein Paket von meinem Mann Patrick. Er hat sich die Mühe gemacht, mir zwei Bananenbrote zu backen! Außerdem hat er mir süße Tamarinden und noch warme Kleidung geschickt, gerade rechtzeitig zu einem starken Temperatursturz. Dann der Schock, als ich das Paket aufmache, auf das ich so sehnsüchtig gewartet habe, dass ich sogar davon geträumt habe: Es haben sich kleine Schimmelflecken auf dem Brot gebildet! Das Paket ist leider erst zwei Tage später, als ursprünglich geplant gewesen, rübergeschifft worden. Ich nehme kurzerhand ein großes Messer und schneide die äußerste Schicht weg, schneide das Brot in Scheiben und friere es portionsweise in Gefrierbeuteln ein. Wegschmeißen ist einfach keine Option! Es ist mir in dem Moment egal, ob ich auf den Schimmel reagiere oder nicht, ich bin jetzt einfach auf diese Vorräte angewiesen. Aber: Ich habe tatsächlich keinerlei Reaktion. Entweder war der Schimmel noch nicht weit vorangeschritten oder er war von der ungiftigen Sorte. Ein Stück Camembert hatte ich hier auch schon vertragen. Vielmehr merke ich, dass das Brot mir richtig Kraft gibt. Irgendwie fällt mir seitdem alles viel leichter, auch wenn das natürlich nur mental gewesen sein kann, aber selbst wenn! Für den Rest der Zeit habe ich nun auch ein Einzelzimmer, sodass ich mehr Erholung finde.
Mit dem Schiff sind auch zwei neue Mädels gekommen. Plötzlich ist alles anders. Ich bin jetzt die Alteingesessene, Erfahrene.
Sie kennen hier noch niemanden und so fällt es mir sehr leicht, Zugang zu ihnen zu finden und Freundschaften zu knüpfen. Wir verstehen uns wirklich gut, und plötzlich befinde ich mich in der Situation, der Lehrer zu sein und sie saugen wissbegierig alles auf, was ich ihnen über das Fangen und Beringen erkläre. Irgendwie ein großartiges Gefühl! Erst jetzt beginne ich zu verstehen, wie weit ich gekommen bin und melde mich von nun an öfter freiwillig für neue Aufgaben und traue mir mehr zu. Durch die lange Unterwäsche, die Patrick mir geschickt hat, ist es nun auch einfacher, mich draußen zu bewegen, einmal bei der Arbeit im Fanggarten, aber einmal mache ich sogar ein Nickerchen am Strand bei ziemlich ungemütlichem Wetter.
Meine süßen Tamarinden teile ich bei gemütlicher Runde, und eine von den Neuen fragt mich sehr direkt nach meinen Nahrungsmittelintoleranzen. Ich schaffe es, recht offen darüber zu sprechen, auch über den langen Weg, den ich hinter mir habe und erfahre sehr positive Resonanz. Ich merke, dass mir die Akzeptanz gut tut, aber ich wäre nicht zwingend drauf angewiesen gewesen. Schön ist aber, dass eine der neuen Mädels, Lena, sehr gerne und gut kocht und ich nun nicht mehr die einzige bin, die meistens in der Küche steht und sie mir immer einen Extratopf mit genau erfragten Zutaten macht. Trotzdem, das schlechte Gewissen, wenn ich anderen Umstände mache, geht nie ganz weg.
Sehr schnell gehen die letzten Tage rum, ich habe noch ein paar tolle Erfolgserlebnisse, schaffe es, ein paar größere und schwierigere Vögel zu händeln, bekomme mehr Verantwortung aufgetragen und bin recht schnell geworden im Ringe dran machen. Ich merke, dass es mit etwas mehr Hintergrundwissen wirklich möglich ist, sich für einen neuen Bereich zu begeistern. Mit einem der Jungs verstehe ich mich extrem gut, wir gehen meist zusammen auf Patrouille, was immer lustig ist, da wir einen ähnlichen Humor haben. Er erinnert mich an eine Mischung aus Sheldon Cooper und meinem kleinen Bruder, und ich verwette meine rechte Hand darauf, dass er auch Aspi ist. Selbst für die anderen Ornithologen ist er oftmals eine Spur zu vogel- und detailverrückt, will um keinen Preis etwas verpassen und ist ständig auf Achse. Er scheint meine Reserviertheit nicht zu bemerken und erklärt mir ohne Unterlass Dinge. Auch bin ich froh, dass er ebenfalls öfters seine Extrawurst braucht, wenn es ums Essen geht, da er z.B. gewisse Gewürze nicht mag, und dadurch die Aufmerksamkeit etwas von meinen Besonderheiten abgelenkt wird… Einmal kocht er Linsen (die ich wohl recht gut vertrage, wenn ich es nicht übertreibe), und bereitet für mich einen extra-Topf zu, den ich mir nach Herzenslust ergänzen darf und ich tue beim nächsten Mal das Gleiche für ihn.
Ich muss sagen, dass ich es genieße, einmal das WG-Leben kennen gelernt zu haben. Selbst wenn man einen Durchhänger hat, das gemeinsame Holzholen, Waschen und Kochen spornt einen doch irgendwie an. Kein Wunder, dass so viele Alleinlebende Depressionen bekommen! Es ist einfach nicht artgerecht für uns Menschen.
So sehr ich die Leute auch vermissen werde und Abschiede mir schwer fallen, so sehr freue ich mich über mein Heimkommen. Als ich mit dem Schiff auf dem Festland ankomme, merke ich sofort wieder ein Anschwellen meiner Hände, obwohl ich seit einem halben Tag nichts gegessen habe. Hier steht alles voller Birken, während es auf der Insel nur eine einzige gab. Dennoch, es scheint meinem Körper durchaus gut getan zu haben, die Zeit hier oben am Meer, denn meine Lippen, die im Winter teilweise noch recht trocken und spröde waren, sind hier in der feuchten Luft sehr schön geworden, und in den Wochen wieder daheim erlebe ich trotz Pollensaison ein weiteres Abheilen meiner Hände, auch bleibe ich vollkommen verschont vom Heuschnupfen. Demnach scheint mein Plan im Endeffekt doch aufgegangen zu sein und ich bin wirklich stark mental an der ganzen Sache gewachsen und einfach stolz, es trotz aller Widrigkeiten durchgezogen zu haben.
Ein zusammenfassendes Video mit tieferen Erkenntnissen findest du hier
Schau dir außerdem das Video zu dem Buch an, das ich in der Zeit gelesen habe